Cornelius schlafwandelt – Textauszug

von Edward Viesel

Was ich wollte, das war ich,
und was ich war, das wollte ich.

Meister Eckhart über den Urzustand in Gott

4. September 2003

Tja, der Herbst ist nun da, und die milden Sonnenstrahlen färben meine innere Welt gelb. Ich sitze auf dem Balkon, rauche, denke, fühle und laufe ins Leere. Ich lasse mich selbst los. Zigarette um Zigarette ticken die Minuten vorbei, und bei mir ist ein wundervoller Friede – Zeitlosigkeit. Manchmal steige ich in die Tiefe herab, um zu sehen, ob ich in mir noch etwas ambitionierte Energie finden kann, aber ich habe keine Ambitionen mehr übrig. Ich habe auf dem Balkon einen Lieblingsplatz, ein Tischlein, an dem ich gelassen sitze und zuschaue, wie die Zeit vorbeigeht. Ich zünde mir eine Zigarette an, sie brennt, und ich atme, voller Hingabe. Das ist alles. Katrin fragt mich manchmal, ob bei mir alles in Ordnung ist. Ja, alles ist in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Alles auf der Welt ist in Ordnung. Ich nicht.

16. September 2003

Ich schreibe dir – immer noch in einer Art Schockzustand. Es war furchtbar. – Nein, Moment, eigentlich war es wundervoll … Ich weiß einfach nicht, wie ich es nennen soll, was mir passiert ist. Aber ich fange vielleicht einfach von vorne an, bevor ich immer verwirrter werde. Katrin und ich hatten Walter, Friedrich und Mara zum Abendessen eingeladen. Wir trinken Wein. Und dann sind wir mit dem Essen fertig. Ich sage Katrin, dass ich unsere Beziehung mag und dass ich mir vorstellen könnte, für immer mit ihr zusammen zu sein. Ich sagte, glaube ich, dann so etwas wie: „Ich fühle mich manchmal, als wären wir ein Paar Turteltauben.“ Tja, vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Na ja, ich gebe zu, ich habe vielleicht etwas gekichert, nachdem ich es gesagt hatte. Ich merke dann, dass mir die Situation entgleitet. Mit barscher Stimme sagt sie: „Hör mal, die Art, wie du um mich herumschwänzelst und bei mir klammerst, erinnert mich, ehrlich gesagt, mehr an einen dummen alten Hund, der nicht weiß, wo er hin soll. Warum versuchst du zur Abwechslung nicht mal ein Mann zu sein? – Du Waschlappen!“ Ihre Gehässigkeit überrascht mich. Ich werde überrumpelt. Ich sitze da und überlege, was ich Witziges sagen kann, um dem, was sie gesagt hat, den Stachel zu nehmen. Ich öffne den Mund, um etwas Geistreiches zu sagen. Es kommt aber nichts heraus. Ich spüre plötzlich, wie sich in mir etwas anderes aufbaut – etwas Vernichtendes, etwas Besiegendes, etwas Unkontrollierbares. Es fühlt sich an, als würde in mir etwas in Stücke brechen und davongeschwemmt werden. Ich kämpfe mit aller Kraft dagegen an, stemme mich dagegen, dränge es zurück, verteidige mich, suche Stabilität. Ich möchte meine Unversehrtheit schützen. Ich will zeigen, dass ich mich nicht aus der Reserve locken lasse. Sie kann ja sagen, was sie will. Ich werde mich aber davon abgrenzen und mich ihrer schlechtgelaunten Angriffe einfach entziehen. Ich bin ein erwachsener Mann – genau wie sie es sagt. Ich öffne meinen Mund wieder. Dann merke ich plötzlich, dass ich es nicht mehr aufhalten kann – Sturzbäche von Tränen fluten und treiben aus meinen Augen. Ich schluchze hemmungslos, mein ganzes Inneres scheint nach außen gestülpt zu werden, so als müsste ich mich heftig übergeben, als würde ich hinweggefegt, als würde ich nicht mehr zusammenhängen. Zwischen Wellen von Schluchzern stoße ich hervor: „Ich dachte unsere Beziehung könnte arglos sein – arglos.“ Dann senke ich den Kopf und weine und weine und weine und schluchze und schluchze und schluchze. Es fühlt sich jetzt befreiend an, weil ich nicht mehr versuche, das aus dem Körper herausströmende Gefühl zurückzudrängen; ich fühle mich freier und leichter. Nach einer Weile höre ich auf, sitze still auf meinem Stuhl und schiebe etwas kaltes Essen auf meinem Teller hin und her. Die anderen im Zimmer sitzen ganz still, wie verängstigt, und schauen etwas verlegen. „Was wir gesehen haben, war wahr, weniger was wir gesagt haben“, sagt Walter. Ich bin erstaunt, vor allem über die pathetische Note, die unser Gespräch annimmt. Ich wusste aber auch nicht, dass ich das Wort „arglos“ in meinem Dasein habe, bis es plötzlich aus meinem Mund kam. Das war es jedoch, was ich den anderen mitgeteilt hatte: Ich will arglos sein. Ich will unschuldig sein. Verstehst du das?

10. Oktober 2003

Mein lieber Freund, was soll ich sagen? Mir fehlen die Worte. Ich habe eine der erhebendsten Erfahrungen meines Lebens gemacht, und es ist alles unter sehr schmerzhaften Umständen passiert. Ich erzähle es dir mal: Katrin und ich hatten uns wieder gestritten. Johnny ist seit ein paar Tagen weg. Er ist zurück nach England gefahren. Nachdem wir mit Streiten fertig waren, fühlte ich mich schuldig und wollte wieder eine liebevolle Atmosphäre schaffen. Ich ging zum Laden und kaufte ihr Lieblingsgetränk, und dann druckte ich einen alten skandinavischen Text aus über einen Fischer, der eine tote Frau auf dem Meeresgrund fängt und sie wieder zum Leben erweckt. Ich stellte die Getränkedose mit den Papierbögen auf einen Stuhl und fügte einen Zettel hinzu, auf dem stand: „Es ist gut, mal Pause zu machen und zu reflektieren. Ich denke, du brauchst eine Pause.“

Ich hörte, wie sie nach Hause kam und wartete ein paar Minuten. Dann ging ich in die Küche, um ihr Hallo zu sagen. Ich hoffte wirklich, dass wir friedfertig sein würden, und dass der ganze Zank sich in Luft auflösen würde. „Hallo“, sagte ich, „ich habe dir ein Geschenk gemacht.“ Ich dachte, ich bekomme vielleicht irgendetwas zurück, zumindest ein Dankeschön. Katrin hatte den ausgedruckten Zettel in der Hand und starrte ihn ungläubig an. Dann ging sie in ihr Zimmer. Ein paar Minuten später stürmte sie heraus und brüllte: „Ich brauche gar nichts. Und ich brauche gar nichts von dir, und ich brauche dich nicht!“ Sie machte eine kurze Pause. „Du klammerst dich an mich wie eine blöder Dackel, der immer geschlagen wird und immer wieder ankommt und mit seinem blöden Schwanz wedelt. Du weißt wohl immer, was ich brauche, was? Wieso kümmerst du dich nicht einfach um deinen Kram? Ich habe im Leben besseres zu tun, als mir von dir auf die Nerven gehen zu lassen. Ich muss wichtige Entscheidungen treffen, und das Leben ist nicht leicht, und ich komme wirklich im Leben aus, ohne dass du herumklammerst und in meiner Aura herumpfuschst – du Auraschädling!“ Wir standen im Flur und sahen einander an. Ich fühlte mich aufgewühlt und gekränkt und wollte mich wehren; ich wollte mich einsetzen für meine Wahrheit und mein Recht. Ich fühlte mich von ihr unfair behandelt, und ich wollte die Dinge zurecht rücken, alles erklären, und wollte dafür sorgen, dass sie einsah, dass ich es gut gemeint hatte – auf jeden Fall nicht andersherum. Aber sie war schon auf Hochtouren und konnte nicht mehr aufgehalten werden. Ich gab mir alle Mühe und versuchte meine Kräfte zu mobilisieren, um etwas zu sagen oder zu tun, aber es funktionierte nicht.

Dann verschwamm mein ganzes Sichtfeld. Ich konnte Katrin nicht mehr schreien hören. Ich fühlte mich ruhig. Plötzlich war ein helles Licht um mich. Der Flur und alles um mich herum war mit einem strahlenden Glanz erfüllt, ein Licht, das so hell war, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich konnte Katrin nicht mehr erkennen. In einer Ecke meines Bewusstseins wusste ich, dass sie immer noch da war, vor mir – mich anbrüllte. Aber mein gesamtes Sein wurde nun mit einem Gedanken durchflutet, der anfangs zu schweben schien und sich drehte wie in einer Umlaufbahn. Dann wurde der Gedanke plötzlich klarer und schärfer, und dann traf er mich wie ein von einem Bogen abgefeuerter Pfeil: „Sie spricht gar nicht mit mir. Sie spricht mit jemand oder etwas anderem, aber nicht mit mir.“ Ich schwebte eine Weile selbst weiter in dem hellen Licht, bis ein weiterer Gedanke zu mir kam: „Sie steht dort und ich stehe hier, und zwischen ihr und mir ist eine große Kluft festgelegt. Ich kann zu ihr nicht hinübergehen.“ Es war vorbei. Ich fühlte Frieden. Die Situation fand irgendwie ein Ende, ich weiß nicht wie. An diesem Tag fühlte ich große Freude. An diesem Tag blieb das helle Licht bei mir.

 

Epilog: Ein Stein im Herbst (November 2003)


2. November 2003

Mein lieber Freund, ich würde so gerne sagen, dass alles gut läuft. Jeder will ja gute Nachrichten hören. Aber es läuft nicht gut. Die Erfahrung des hellen Lichtes hat mein Herz und meine Seele geöffnet. Ich bin frei. Ich bin nun auch frei, über mich nachzudenken. Aber auch die Blockaden nehmen zu. Ich bin mir bewusst geworden, wie wenig ich in der Lage bin, tiefe, hingebungsvolle Liebe zu empfinden, mein Leben für jemand anderen hinzugeben. Ich bete tausendmal am Tag: „Gott, befähige mich zur Liebe! Ich möchte lieben, weil ich leben möchte.“ Daraus besteht mein Tag: um Liebe flehen, ausschließlich und allein um Liebe flehen. Alles andere ist sinnlos. Bitte denke an mich, mein lieber, lieber Freund.


4. November 2003

Ich sitze hier und reflektiere, reflektiere und reflektiere. Ich sehe jetzt, wo alles angefangen hat schiefzugehen und warum ich jetzt an einem toten Punkt angekommen bin. Meine Mutter sagte einmal: „Ich weiß am besten, was gut für dich ist.“ Und selbst wenn sie es nicht gesagt hat, habe ich es so gefühlt. In meiner Jugend hatte ich oft Wut. Es fühlte sich an, als würde ich mich von unten gegen einen Felsen stemmen. Ich habe mich jetzt zwanzig Jahre lang gegen diesen Felsen gestemmt, und ich fühle mich fix und fertig von all dem Stemmen; ich fühle mich schwach, und ich fühle mich ohnmächtig, und ich fühle mich als Versager: mein Leben, eine einzige Niederlage. Dann wischte gestern jemand meine innersten Gefühle einfach vom Tisch, wie meine Mutter es immer gemacht hat. Aber dieses Mal war es plötzlich anders. Das Nachdenken über das helle Licht und über die Fähigkeit zu lieben hat irgendwie begonnen, mich zu verändern: Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich herunterschaute – ein Riese, voller Mitgefühl. Blitzartig glaubte ich zu sehen, was all die Jahre falsch gelaufen war: Meine Probleme waren wirklich groß gewesen, gewiss. Aber ich sah: Das Problem war nicht meine Mutter, das Problem war ich. Ich hätte voller Liebe und Mitgefühl von meiner Höhe herabschauen sollen. Stattdessen stemmte ich mich mit Wut und Angst von unten dagegen. Ich habe all die Jahre mit einer unsinnigen, auf den Kopf gestellten Beziehung verschwendet. Ich dachte, ich sei der Schwache, dabei war ich es, so sah ich es nun, der der Starke war. Meine Ursünde war Feigheit. Ich war nicht das Opfer eines anderen Menschen. Ich war ein Versager aus freien Stücken, ein Waschlappen, der sich das selbst ausgesucht hatte. Ich hatte nicht die Stelle im Leben eingenommen, die mir zugewiesen worden war. Stattdessen hatte ich mein Ego poliert. Ich war selbstsüchtig, weil ich nichts für die Welt und Gott tun wollte; nur ich war die Sonne in meinem Firmament – allein. Aber andererseits: Wie hätte mein Leben anders als selbstsüchtig sein können, wenn es immer nur um mein Ego ging? Ich hatte gedacht, dass mein Ich das Wertvollste sei, was ich habe und verteidigen müsse. In Wirklichkeit war mein Ich das nutzloseste Hindernis. Wäre dieses Hindernis beseitigt worden, hätte ich ein von großem Frieden erfülltes Leben geführt – das Leben einer riesenhaften Eiche. Ich habe aber immer durchgehangen, ich habe vor Wut geschäumt und geschimpft. Unter dem Felsen war es eng und dunkel und beängstigend. Alles, was ich jemals in meinem Leben erlebt habe, ist Angst: eine tief verwurzelte, ungerichtete, panoramaartige Angst. Ich habe exotische, fremde Länder bereist, den schönsten Frauen den Hof gemacht, die besten Weine getrunken, die schönste Musik gesungen und gespielt, und auf jede erdenkliche Weise nach den Sternen gegriffen. (Na ja, beim Wiederlesen habe ich den Eindruck, dass ich hier möglicherweise etwas übertreibe, aber was soll‘s). Ich habe dabei aber nie etwas Bestimmtes gefühlt, weil in mir kein Raum für Gefühle war. Damit Schönheit und das Leben überhaupt hätten ankommen können, hätte aus meinem Inneren erst einmal der ganze Egoschleim ausgeschüttet werden müssen. Ich habe in meinem Leben immer nur Angst gefühlt, nichts anderes hat in meinem Leben eine Rolle gespielt. Alles andere war nur ein äußerlicher Vorgang, ein fades Hintergrundrauschen. „Ich“ bin ein großer, grauer Klumpen Angst; ich lebe in und für die Angst. Es gibt in mir keinen Raum, keinen Raum – keinen Raum!


7. November 2003

Heute Morgen wachte ich auf und hatte plötzlich so ein Gefühl: Ich stellte mir vor, wie alle Leute, die ich kenne und die immer über ihre Vergangenheit und ihre Kindheit und ihre Jugend jammern, plötzlich frei sind, so als wären sie plötzlich durch magischen Sternenstaub verwandelt worden. Ich stellte mir vor, wie sie lachten und wundervolle Dingen taten, und wie sie wie Seifenblasen durch die sonnendurchflutete Luft schwebten. Sie waren so ganz anders als in ihrer normalen zerrissenen, muffeligen und aggressiven Existenz. Sie waren fließend und weich und offen – fast ätherisch. Ich hatte eine Vision, wie jemand sich durchs Zimmer bewegte, lachend, bereit das erfüllte Leben zu leben, das tiefe Leben, bereit das Leben in jedem Moment zu leben, in jedem sich bietenden Moment zu leben. Ich bekam ein starkes Gefühl von Hoffnung und Euphorie. Darunter war aber die ganze Zeit ein nagendes Gefühl, ein Gefühl, dass ich letztlich falsch lag: Es gab keine Hoffnung; die Menschen würden sich nie wie Maschinen reparieren lassen. Ich war dazu verdammt, mit den Menschen zu leben, so wie sie waren. Sie würden mich nie so, wie ich war, akzeptieren, und ich würde keinen echten Kontakt mit ihnen aufnehmen können. Ich muss zugeben, dass ich ein Gefühl hatte, dass unter diesem deprimierenden Gedanken noch etwas anderes war, etwas, was darauf wartete, aufgedeckt zu werden. Aber der berauschende Gedanke, dass wir alle mit reinem Tisch neu anfangen könnten, dass die Vergangenheit sich einfach auflösen würde und dass die Welt in meinem Geist und in meinem Dasein neu und strahlend und unbefleckt erschaffen würde, dieser Gedanke war einfach zu stark. Der Gedanke fühlte sich so stark an, so kraftvoll, so voller Hoffnung, wie eine extrem wirksame und sehr einfache Droge, wie der milde und gleichzeitig belebende Wind eines Frühlingsmorgens. Ich wollte aus diesen schwindelerregenden Höhen nicht wieder in die Niederungen herabsteigen, wo Menschen statt zu wachsen versagten, litten und verkümmerten. Ich wollte, dass mein Leben die Energie eines explodierenden Sterns hat. Ich wollte, dass ich wie eine gewaltige Statue aus Purpur und Gold wachsen und erstrahlen würde. Das war die Versuchung. Ich lag still da und klammerte mich an diese Versuchung – und fühlte mich dabei schlecht.